Der Benz Patent-Motorwagen Nr. 1 war
ein einfaches Auto. Mit etwas Geschick konnten Sie vieles selbst reparieren und selbst wenn nicht: Der Monteur fand den Fehler schnell und die Reparatur war in der Regel unproblematisch einfach.
Die Physik zur Zeit von Gottlieb Daimler und Karl Benz feierte viele Erfolge und es gab eine Koevolution von Wissenschaft und Technik, von deren Innovationspotenzial wir noch heute zehren.
Inzwischen sind die meisten Autos vollgestopft mit Technik und Elektronik. Die Physik hat ungefähr im selben Zeitraum eine ähnliche Entwicklung erfahren: Die einst recht einfachen Modelle und Theorien wurden erweitert, ausgebaut und so immer komplizierter und unübersichtlicher.
Klingt nicht schlecht, sagen Sie jetzt vielleicht. Die heutigen Autos sind zwar komplizierter geworden, aber auch schneller, bequemer und leistungsfähiger.
Leider hinkt der Vergleich zwischen der Entwicklung der Autos und der Entwicklung der Physik an dieser Stelle. Die Physik ist nicht nur so unübersichtlich geworden, dass Sie keinen Physiker mehr finden werden, der alle Teildisziplinen im Blick hat, sie wurde auch geradezu unfruchtbar.
Warum unfruchtbar, fragen Sie? Nun, das hängt mit der zunehmenden Komplexität zusammen. Die Standardmodelle leisten sich heute eine Vielzahl von Naturkonstanten. Beunruhigend daran ist, dass diese Konstanten Zahlen sind, die die Physik nicht erklären kann. Sie werden einfach gebraucht, um eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis auszugleichen.
Sie können es auch so sehen: Wo es eine Naturkonstante gibt, hat es sich jemand einfach gemacht. Statt eine Lösung für das Problem zu finden, hat er sich mit einem Workaround begnügt. Erwin Schrödinger sagte dazu: „Ist das Problem erst mit einer Ausrede beseitigt, entfällt auch die Notwendigkeit, darüber nachzudenken.“
Zugegeben: Eine Naturkonstante zu eliminieren kann Jahrzehnte in Anspruch nehmen und bedarf unter Umständen einer veritablen Revolution zumindest eines Teilgebietes der Physik. Gerade diese schwierige Arbeit ist jedoch notwendig, wenn die Physik gesund und fruchtbar bleiben soll.
Darüber hinaus bedient sich die heutige Physik weiterer willfähriger Werkzeuge der Problembeseitigung, wie die Dunkle Materie und die Dunkle Energie in der Kosmologie und auch eine unübersichtliche Menge hunderter von Elementarteilchen in der Teilchenphysik. Leider ist es heute unmöglich und wird auch in Zukunft fast aussichtslos bleiben, sie zu beobachten – also in der Realität einen Nachweis ihres Daseins zu finden.
Eine Naturkonstante mehr, eine dunkle Substanz mehr, ein Elementarteilchen mehr ist also normalerweise kein Gewinn für die Wissenschaft, sondern ein Verlust an Klarheit.
Sie fragen zurecht, ob dann noch ein Erkenntnisgewinn möglich ist, denn wenn schon die theoretische Aussage unklar ist, gibt es auch keine Deutungsgrundlage für konkrete Beobachtungen und Messungen. Die Theorie bleibt Theorie und die Praxis steht mit leeren Händen da. Und das ist auch der Grund, warum die Physik seit Jahrzehnten unfruchtbar ist. Wo nichts Greifbares entsteht, da kann auch keine technische Innovation abgeleitet werden.
Zu Zeiten der ersten Autos gab es noch einige Physiker, die sich darum bemühten, Naturkonstanten zu eliminieren oder das physikalische Theoriegebäude sonstwie zu vereinfachen und auf diese Weise plausibler und erkenntnisreicher zu machen. Heute hat sich der Trend wie gesagt umgekehrt.
Da fällt mir doch noch eine weitere Parallele zu den heutigen Autos ein: Die Physik ist, wie auch die Autos, ungeheuer bequem geworden. Probleme müssen nicht mehr gelöst werden. Vereinfachung – die harte, kreative Arbeit des klassischen Theoretikers – ist kein Thema mehr. Der moderne Physiker postuliert einfach ein neues Teilchen oder eine neue dunkle Substanz und schon läuft die Karre wieder.
Wie wär’s? Haben Sie nicht auch Lust, mal ein Elementarteilchen zu erfinden? Vielleicht wird Ihnen ja sogar der Nobelpreis dafür verliehen.
Bildrechte: DaimlerChrysler AG, Lizenz: CC BY-SA 3.0