IM DUNKELN IST GUT MUNKELN

Die Physik könnte ruhig ein bisschen Poesie vertragen. Warum? Weil schon Johann Wolfgang von Goethe wahre Worte gesprochen hat, die von mir aus gerne in die Bildungs- und Forschungseinrichtungen weitergetragen werden können:

„Und denn, man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.“

Also wirklich: Auch die Physik könnte sich diese Weisheit Goethes zu Herzen nehmen.

Verrückt, verrückter, Nobelpreis

Denn was passiert, wenn die Masse der Menschheit die Wahrheit wiederholt, konnten wir in diesem Jahrhundert schon beobachten. Sie erinnern sich sicher: Der Nobelpreis für Physik 2011 wurde vergeben für die Beobachtung, dass sich die Expansion des Weltalls mit der Zeit beschleunigt. 1998 zeigte sich, dass die Expansion des Universums heute schneller abzulaufen schien als früher. Für diese Entdeckung und die dazugehörige raffinierte Methode teilten sich zwei Beobachtergruppen, die sich ein spannendes Wettrennen um entfernte Supernovae geliefert hatten, den Nobelpreis für Physik, durchaus zu Recht.

Angeblich erschien diese Erkenntnis den Forschern anfangs so verrückt, dass sie sie selbst nicht glauben konnten. Die Ursache der kosmischen Beschleunigung, nämlich die Dunkle Energie, gilt als vollkommen unverstanden. Wenn man es genau nimmt, handelt es sich eigentlich um eine Anomalie, die Zweifel an dem herkömmlichen Modell der Expansion nährt. Aber wirklich das ganze Modell in Zweifel ziehen? Dann doch lieber eine Reparatur …

Keine Abwehrkräfte

Die ganz große Überraschung, als die die beschleunigte Expansion heute gerne dargestellt wird, war sie im Übrigen gar nicht. Denn jeder wusste, dass die vorherigen Messungen der Hubble-Konstante nur dann ein Weltalter von 14 Milliarden Jahren ergaben, wenn man die momentane Expansionsgeschwindigkeit einfach in die Vergangenheit zurückextrapolierte – so, als gäbe es keine Wirkung der Gravitation. Das ist doch verdächtig. Finden Sie nicht auch?

Die Einführung der Dunklen Energie, die zur Erklärung dieser Beschleunigung herangezogen wurde, erhöhte die Gesamtmasse des Universums um ein Vielfaches. Nun ja, die Abwehrkräfte gegen die Verbreitung dunkler Theorien (vorher war ja schon die Dunkle Materie postuliert worden) in der Physik sind vielleicht nicht mehr so stark, wie sie mal waren. Ist ja auch klar: Im Dunkeln ist eben gut munkeln – leider auch in der Wissenschaft. Oder wie Erwin Schrödinger einst so schön sagte: „Ist das Problem erst mal durch eine Ausrede beseitigt, entfällt auch die Notwendigkeit, darüber nachzudenken.“

Immer mehr Dunkelheiten

Die dunkle Energie soll angeblich eine der Gravitation entgegengesetzte Wirkung haben. Newton wäre davon sicher nicht begeistert gewesen, dass nun 70 % des Weltalls abstoßend sein sollen und 95 % gleich ganz unsichtbar – eigentlich absurd. Daher ist für mich die Idee viel näherliegend, dass die Expansion selbst eine Illusion ist (und damit auch die Dunkle Energie) – siehe Kapitel 10 meines Buches „Einsteins verlorener Schlüssel: Warum wir die beste Idee des 20. Jahrhunderts übersehen haben“.

Die Verfechter der Standard-Kosmologie sind mit der Dunklen Energie dagegen zufrieden. Fragen Sie jetzt aber bitte nicht, wieso genau so viel dunkle Energie im Universum ist, dass sich ihr Effekt exakt zum gewünschten Verhältnis mit dem der Gravitation aufhebt. Das ist bisher völlig im Dunkeln geblieben.

Die dunkle Seite des Alls ist in den letzten Jahren erstaunlich groß geworden. Und die Theorien dazu sind noch dunkler als ihr Gegenstand. Da könnte ich glatt glauben, Darth Vader hat zurückgeschlagen.

WENN DIE PHYSIK ZUR SÜSSIGKEITENSCHACHTEL WIRD

Sie kennen doch sicherlich M&M’s und Smarties. Diese Schokolinsen, die mit bunten Zuckerüberzug daherkommen und von denen manche behaupten, sie könnten den Unterschied in der Farbe schmecken. Ganz ähnlich wie eine Packung M&M’s kommt mir die Physik manchmal vor – jedenfalls dann, wenn es um Quarks geht.

Quarks – ist das was zum Essen?

Die Welt der Quarks ist bunter als die der M&M’s – und fast ebenso beliebig. Es gibt sie in drei Farben: rot, grün und blau. Und in sechs Geschmacksrichtungen: up, down, strange, bottom, top und charm. Und Überraschung: Laut Teilchenphysikern können Sie die bunten Teilchen sogar essen. Sie kommen sogar gar nicht umhin, sie zu essen. Denn Quarks sind angeblich – neben weiteren Teilchen – die grundlegenden Bausteine, aus denen Materie aufgebaut ist. Mhm, lecker.

Eines stößt mir aber sauer auf: Diese kulinarischen Köstlichkeiten wurden nicht durch Experimente entdeckt wie beispielsweise die Elektronen oder der Atomkern. Die Evidenz für Quarks ist viel „indirekter“, kurz gesagt: Physiker haben ihre Existenz einfach angenommen.

Nicht erklärbar? Das muss ein Teilchen sein.

Der Hochenergiephysiker und Wissenschaftshistoriker Andrew Pickering berichtet davon detailliert in seinem großartigen Buch „Constructing Quarks“. Das Muster ist immer das gleiche: Beobachten die Teilchenphysiker in ihren Experimenten etwas, das sie nicht erklären können, postulieren Sie ein Teilchen, dass genau die Eigenschaften hat, die die Lücke füllen. Ist ja prima …

Diesem Beispiel folgen die “modernen“ Forscher seit Jahrzehnten, was unter anderem zu Geschmacklosigkeiten wie den Quarks mit ihren unüberschaubar vielen Varianten und bizarren Eigenschaften führte. Stellen sie sich vor: „Teilchen“, die nie als solche einzeln vorkommen. Demokrit hätte sich im Grab umgedreht. Weil Pickerings Buch den Finger in solche Wunden legt, versteht man, warum es unter Teilchenphysikern recht unbeliebt ist.

Schlank und einfach statt bunte Vielfalt

Ich finde ja: Die Physik sollte die Produktion bunter Vielfalt doch besser den Süßigkeitenproduzenten überlassen und sich lieber darauf konzentrieren, ihre Modelle schlank und einfach – und vor allem: nachprüfbar – zu gestalten. Aber davon sind sie leider weit entfernt.

David Gross, der 2004 einen Nobelpreis für seine Arbeit an dem Quarkmodell erhielt, verließ ein Interview mit mir auch leicht angesäuert, als das Thema auf Pickerings Buch kam – vielleicht hätte ich ein paar M&M’s mitbringen sollen?