IST DIE PHYSIK IMPOTENT GEWORDEN?

Es war eine wilde Jagd. Die fast lichtschnellen Geschosse flogen in alle Richtungen. Gegen Mitternacht konnte die Polizei den berüchtigten Verbrecher stellen, wie ein Sprecher des Kriminalamtes auf einer Pressekonferenz berichtete. Die Beweise und Spuren, die zur Ergreifung des lange gesuchten Übeltäters beitrugen, wurden noch in derselben Nacht vernichtet. Für das Gerichtsverfahren archiviert wurde lediglich der Abschlussbericht.

Wenn Sie der Richter wären, würden Sie den Verbrecher aufgrund dieser Beweislage verurteilen? Nein? Ich auch nicht.

Wie verhindert wird …

Genau so hat sich die Jagd auf das Higgs-Boson und viele andere Elementarteilchen am CERN zugetragen. Die Rohdaten werden nur Sekunden, nachdem sie im Teilchenbeschleuniger entstanden sind, gefiltert und zu über 99,9 Prozent vernichtet. Und einen Versuchsaufbau wie den Large Hadron Collider können Sie nicht einfach nachbauen … Die zentralen Voraussetzungen für eine Überprüfung der Behauptung, das Teilchen sei gefunden worden, fehlen. Es ist, als sei das CERN Polizei, Staatsanwalt und Richter in Personalunion und die Welt soll einfach die Hände im Schoß falten und glauben.

„Wie werden Ergebnisse geprüft?“ „Wer überblickt eigentlich das ganze Experiment?“ „Gibt es unabhängige Tests der Software?“ Das CERN hat zu solchen Fragen immer dieselbe Antwort: „Das machen wir intern sehr sorgfältig.“

Ich will den Kollegen am CERN und anderen großen Instituten nicht vorwerfen, dass sie sich keine Mühe geben würden. Ich bin sicher, die meisten arbeiten mit guten Intentionen und nach bestem Wissen. Ein Vergleich drängt sich mir jedoch auf: Diese Diskurspraxis erinnert mich an die Debatten im Zetralkomitee der KPdSU.

… was möglich wäre

Das alles würde mich nicht umtreiben, wenn die Physik so fruchtbar wäre, wie eh und je. Sie hat den technischen Fortschritt befeuert wie keine andere Wissenschaft. Denken Sie nur mal an das Handy, Radio, TV, deren Entwicklung ohne die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen durch Heinrich Hertz im Jahre 1886 nicht möglich gewesen wäre. Aber seit längerem tut sich nicht mehr so viel. Die letzten großen technischen Errungenschaften basieren auf Entdeckungen und Theorien, die 100 Jahre und älter sind. Nun, vielleicht entwickelt der Mensch demnächst einen Quantencomputer, der würde dann immerhin auf Theorien fußen, die um die vorletzte Jahrhundertwende herum entwickelt wurden.

Die heutigen Teilchenbeschleuniger, Raumsonden und Präzisionsmessgeräte könnten eine gewaltige Investition in die Zukunft sein, wenn sie Ergebnisse erzeugen, die verwertbar sind. Aber die Physik scheint mehr und mehr in sich abgeschlossen. Ein großer Kreislauf, der Unsummen verschlingt und sagenhafte Geschichten wie die Viele-Welten-Theorie und das Higgs-Boson ausspuckt.

Ist die Physik denn impotent geworden?

Auf dem Weg zu einer „open science“?

Die Entscheidung über diese Frage werden nachfolgende Generationen beantworten müssen. Die Frage für die Physik der Gegenwart kann nur sein, was sie tun muss, damit sie wieder zu reproduzierbaren, überprüfbaren und somit glaubwürdigen Theorien und Ergebnissen kommt. Und die wichtigste Komponente dabei ist ein Konzept, dass die Soziologin und Kulturwissenschaftlerin Caroline Y. Robertson – von Trotha in den 90ern geprägt hat: Die „öffentliche Wissenschaft“ oder englisch „open science“.

Dieses Konzept enthält die zentralen Forderungen nach:
wiederholbaren Experimenten,
Daten, die für jedermann offen und einsehbar sind und
dadurch falsifizierbare, also überprüfbare Ergebnisse und Theorien.

In meinem Buch „Auf dem Holzweg durch’s Universum“ liste ich zehn Vorschläge für die Experimentalphysik auf, die zeigen, wie die Forderung nach einer „open science“ im Internetzeitalter umgesetzt werden könnte (S. 286, http://www.amazon.de/Auf-dem-Holzweg-durchs-Universum/dp/3446432140). Eine solche „open science“ wird dieses Jahr durch die niederländische Präsidentschaft der EU politisch unterstützt. Ob das reicht, um die entsprechenden Arbeitsweisen und Prinzipien durchzusetzen, darf bezweifelt werden – aber es ist ein Anfang.

ZU TODE GEFILTERT – DIE LEIDEN DER ELEMENTARTEILCHEN

„Piiiieeep!“ macht der Detektor. Der Schatzsucher setzt den Spaten an. Er findet: Eine Dose. Vielleicht den Detektor feiner einstellen? Gedacht – getan. Er läuft weiter … „Piiieeep!“ Ein Kronenkorken. Detektor feiner einstellen. „Piiieeep!“ Eine Haarnadel – verdammt! Wo ist denn jetzt die Goldmünze?

Immer feinere Filter – kein Ende in Sicht

Die Teilchenphysiker gehen zwar nicht mit dem Metalldetektor über den Acker und sie suchen auch keinen Goldschatz, aber die Methode, mit der sie nach Elementarteilchen suchen, ist dieselbe. Wenn sie nicht das Gewünschte aufspüren, stellen sie ihre Geräte einfach immer feiner oder gröber ein, in der Hoffnung, doch noch das erwünschte Teilchen zu finden.

Wie zum Beispiel bei den Neutrinos. Bisher konnten die Forscher noch nicht messen, welche Masse die Neutrinos denn nun haben – und ohne diese Messung weiß die Physik praktisch nichts über diese Geisterteilchen. Also suchen sie in immer neuen Forschungsprojekten mit immer geringeren Energieniveaus nach einem Nachweis für die Teilchen. Trotzdem glauben viele Physiker mittlerweile die Legende, es seien Neutrinos nachgewiesen worden. (Warum ich das für eine Legende halte, erkläre ich in meinem Blogbeitrag „NEUTRINOS – BEGEISTERND ODER GEISTERHAFT?“)

Oder immer mehr Energie?

Ähnlich sieht es bei den Elementarteilchen aus, die durch die sogenannte Supersymmetrie postuliert werden, wie etwa das knuffige „Photino“ und das niedliche „Higgsino“. Die Theorie besagt nicht viel mehr, als dass es doch schön wäre, wenn jedes Teilchen, das die Physik kennt, noch einen Partner mit umgekehrten Eigenschaften hätte. Eine theoretische Notwendigkeit gibt es dafür nicht.

Trotz der – großzügig gesprochen – dünnen Theorie suchen die Forscher in immer teureren Projekten mit immer höheren Energien nach diesen Teilchen. Und irgendwann sehen sie die Theorie dann vermutlich als erwiesen an, bloß weil sie in einem Haufen unübersichtlicher Messwerte, die sie nicht erklären können, ein Signal finden, das sie unbedingt als eines der gesuchten supersymmetrischen Teilchen interpretieren müssen – wie beim Higgs-Boson.

Und mit diesem „Fund“ können sie dann weitere horrende Forschungsgelder anwerben, mit denen das Spiel von Neuem beginnt: Sie bauen einen neuen Beschleuniger mit noch höherer Energie, der die in der letzten Runde „erklärten“ Signale herausfiltert. Und aus dem Bodensatz der chaotischen Kollisionsdaten fischen sie dann die nächsten Banalitäten heraus, um diese mit irgendeiner vagen theoretischen Wunschvorstellung zu assoziieren.

Wie lange geht die Suche weiter?

Weil es in der modernen Teilchenphysik keine überzeugenden und konkreten Theorien mehr gibt, finden solche Versuche niemals ein Ende. Ohne handfeste Theorie, kein Abbruchkriterium – und die Suche nach den Teilchen endet in einem sich endlos drehenden Hamsterrad.

So als jüngstes Beispiel das leichteste supersymmetrische Teilchen, aus dem die dunkle Materie bestehen soll. Eines muss ich den Teilchenphysikern schon lassen: Die Marketing-Kooperation mit den Kosmologen funktioniert prächtig, wenn sie neue Forschungsgelder abgreifen wollen. Es gibt noch keinen Nachweis von dunkler Materie im Weltall und doch werden Forschungsgelder dafür ausgegeben, um nach einem Teilchen zu suchen, aus dem diese dunkle Materie bestehen soll.

Ob Sie es glauben, oder nicht: Die Teilchenphysik hat ihren Goldschatz schon gefunden. Ihr Goldschatz ist die Suche nach Teilchen selbst, die sie sich teuer bezahlen lässt.